Was bleibt?

"Am Ende der Welt" – diese Worte stehen für Abenteuerlust, Entdeckerdrang und für ein Ende. Im Sinne eines Punkts, an dem es nicht mehr weitergeht, an dem die Sehnsucht nach der Ferne ein Ende findet. Insofern erschien es mir 2018 nur logisch "ans andere Ende der Welt" zu reisen. Wenn ich dieser Sehnsucht, diesem Fernweh nachgehe, dann will ich so weit weg, bis mich jeder weitere Schritt nach Hause führt. Denn geht es nicht – neben Entdeckerdrang und Abenteuerlust – auch darum, anzukommen?

Dieser und weitere Gedanken dieser Art haben mich nach meiner Heimkehr im März immer wieder beschäftigt. Oft habe ich mich gefragt: Was bleibt von meiner Reise?

Vom Glück im Hinterland zu leben

Würde man einen Tunnel von meinem Heimatort im hessischen Hinterland graben, käme man zwar nicht direkt in Neuseeland, aber zumindest ziemlich in der Nähe – mitten im Pazifik – heraus.


Überprüfen kann man das übrigens hier: https://www.antipodesmap.com/ Auf dieser interaktiven Karte kann man einen Ort eingeben und in wenigen Sekunden herausfinden, was auf der anderen Seite der Welt liegt.


Mein Bruder bezeichnet unser "Hinterland" oft liebevoll als "grüne Hölle". Wenn man sich die Region auf einer Karte anschaut, wird einem schnell klar, warum. Die einzige größere Stadt Marburg erscheint wie eine Oase, umgeben von Wäldern, Wiesen und kleinen Dörfern.

 

Als Kind erschien mir diese Weite eng und die Zeit endlos. Ich erinnere mich vor allem an das ständige warten. Warten darauf, dass etwas passiert. Damals begriff ich natürlich nicht, dass es an mir selbst liegt, aus dieser passiven Haltung herauszutreten. Ich verstand nicht, wie wertvoll es ist, Zeit für Langeweile zu haben.

 

Wie so oft erkennt man den Wert von etwas Wesentlichem, erst dann, wenn es nicht mehr da ist.

Vom Glück loszulassen

Der Übergang vom Studium ins Berufslebsleben hat für mich sehr schnell den Wert der Zeit verdeutlicht. Der Druck der ständigen Verfügbarkeit, die durchgetaktete 40 Stunden Arbeitswoche, die sich selbst beschleunigenden medialen Entwicklungen, die meinen Berufsalltag prägen.

 

Ob man das nun als positiv oder als negativ betrachtet, ist einem selbst überlassen. Ich bin zugleich fasziniert und skeptisch gegenüber den neuen Möglichkeiten. Fasziniert von den Chancen und skeptisch gegenüber dem, was das Ganze mit mir und uns macht.

 

Mehr Informationen, mehr Möglichkeiten, mehr Bedürfnisse, von denen wir vorher gar nicht wussten, dass wir sie haben. Dabei beansprucht das Ganze eine der wichtigsten Bestandteile unseres Lebens: unsere Zeit.

 

Das gilt übrigens nicht nur für die, die Inhalte konsumieren, sondern auch für die, die Inhalte produzieren. Ursprünglich wollte ich meine Zeit auf der Reise nutzen, um mehr Zeit für dieses Projekt, diesen Blog zu haben und regelmäßig Bilder und Geschichten zu posten. Doch ich habe schnell gemerkt, dass mich das davon abhalten würde, die Reise wirklich zu erleben.

 

Ich hätte meine Tage ähnlich verbracht wie in meinem Bürojob und hätte mehr von meinem Bildschirm als von der echten Welt gesehen. Denn halb gare Inhalte rauszuhauen, nur um irgendetwas zu veröffentlichen – das liegt mir nicht. 

 

So habe ich herausgefunden, dass das Glück darin liegt, loszulassen. Vom vermeintlichen Zeit- und Leistungsdruck.

Vom Glück der Langsamen

Für manche Reisende sind die Anzahl der Stempel im Pass wie die Hologrammkarten im Pokémon Sammel-Deck . Je mehr, desto besser. Zu Beginn meiner Reise dachte ich ähnlich. Ich dachte, die Maximierung der Erlebnisdichte würde automatisch zur Maximierung des Glücksgefühls führen.

 

Die erste Enttäuschung kam bei der Einreise in Neuseeland. Es gab keinen Einreisestempel. Ich wurde nicht einmal von einer Zollbeamtin begrüßt. Die gesamte Einreise wurde digital aufgenommen. Ein wenig fühlte ich mich um meinen Stempel, dem Beweis, dass ich wirklich da war, betrogen. 

 

Die zweite Enttäuschung kam bei der konkreten Planung meiner Reise. Ein Blick auf die aufgefaltete Karte verdeutlichte die unfassbar vielen Sehenswürdigkeiten und Möglichkeiten. In diesem Moment zu Beginn meiner Reise in einem Hostel in Auckland wusste ich: Wenn ich langsam reisen möchte, kann ich keine Weltreise machen. Ich musste es nur noch akzeptieren.

 

Nachdem ich mir in Auckland mein Auto gekauft hatte, wollte ich dennoch möglichst viel entdecken und unterwegs sein. Ich hatte fast viereinhalb Jahre meines Lebens auf einem Bürostuhl gesessen. Jetzt konnte ich mich nicht genug bewegen. Vor oder mit der Sonne aufstehen, auf dem Campingkocher Kaffee kochen, den Vögeln und dem Rauschen des Meers zuhören, losfahren, die Musik aufdrehen und jeden Tag an einem neuen Ort aufwachen – das war das größte Glück.

 

Das Unterwegs sein bringt eine wunderschöne Leichtigkeit mit sich. Wenn man ständig in Bewegung ist, sieht man nur die schönen Seiten der Orte und die freundliche Seite der Menschen. Es bleibt keine Zeit, hinter die Fassaden zu schauen.

 

Doch mir reichte das irgendwann nicht mehr – dieses Treiben an der Oberfläche. Ich wollte herausfinden, wie es hinter den polierten Fassaden und dem freundlichen Smalltalk aussieht.

Je mehr Zeit ich in Neuseeland verbrachte, desto deutlicher wurde zum Beispiel, dass die Balance zwischen Geben und Nehmen, zwischen Reisenden und Einheimischen nicht mehr im Gleichgewicht zu sein schien.

 

Es gab einfach zu viele von uns. Zu viele Reisende, die die Großzügigkeit und die Gastfreundschaft der Einheimischen ausgenutzt haben.  Zu viele Einheimische, die abhängig sind von den Einnahmen durch den Tourismus.

 

Nach etwa sechs Monaten unterwegs sehnte ich mich danach, an einem Ort zu bleiben. Nach Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten.  So beschloss ich in Kaikoura zu bleiben. Einem kleinen Ort an der Ostküste Neuseelands, etwa drei Stunden nördlich von Christchurch. Berühmt ist Kaikoura vor allem wegen der dort lebenden Wale und Delphine, die man über das ganze Jahr hinweg beobachten kann. Eine gute Basis für eine Pause.

 

In dieser Zeit lernte ich, dass das Glück darin liegt, sich Zeit zu nehmen. Zum Nachdenken oder ganz einfach, um die Dinge auf mich zukommen zu lassen, anstatt ihnen hinterherzulaufen. 

Vom Glück des Scheiterns

Als ich mein 20 Jahre altes Auto in Auckland kaufte, war mir klar, dass dieser Kauf einem Glücksspiel gleicht. Nach sechs Monaten unterwegs auf unzähligen Schotterpisten, war ich offenbar nicht die Einzige, die eine Pause brauchte. Die Stoßdämpfer meines Autos waren zerbrochen, die Reifen runtergefahren – "Herby" war ein wirtschaftlicher Totalschaden.

 

Bei einem unserer ersten Treffen nach meiner Rückkehr fragte mich eine Freundin: "Und du hattest niemals Angst?"

Klar hatte ich Angst.

Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich solche existenzielle Angst. Eine meiner größten Ängste war (und ist) zum Beispiel, mittellos zu sein. Damit verbunden die ständige Angst, dass meinem Auto etwas passiert und ich nicht genug Geld habe, um es reparieren zu lassen.

 

Doch wie so oft im Leben, passierte natürlich genau das, wovor man am meisten Angst hat. In meinem Fall: Die notwendige, aber teure Reparatur meines Autos und meine geringer werdenden Ersparnisse. Nach langem Hin und Her, entschied ich mich, das Geld zu investieren und "Herby" reparieren zu lassen. Dafür musste ich mir einen Job suchen und länger in Kaikoura bleiben.

 

Aus vier Wochen wurden drei Monate. Drei der anstrengendsten, aber auch schönsten Monate meines Lebens. Ich arbeitete als Reinigungskraft in einem Hostel und als Köchin.

 

Beide Jobs waren neu für mich und gerade in der Küche war ich anfangs unsicher und bei jeder Bestellung aufgeregt. Aber dank meiner Kollegen und dem Vertrauen der Inhaber habe ich es  geschafft viel Neues, zu lernen. Zum Beispiel, dass es mir unglaublich viel Spaß macht, neue Gerichte zu entwickeln und Menschen mit meinem Essen oder einem schön gemachten Bett eine Freude zu bereiten.

 

Wäre alles glatt gelaufen und mein Auto nicht kaputtgegangen, hätte ich diese Erfahrungen nicht gemacht. Dann wäre ich nicht an meine Grenzen gekommen, hätte nicht die besonderen Menschen kennengelernt, die ich treffen durfte und hätte nicht so viel Neues in so kurzer Zeit gelernt. Rückblickend war es ein großes Glück zu scheitern.

Vom Glück der Begegnungen

Das Spannende am unterwegs sein sind nicht nur die verschiedenen Orte, sondern auch die unterschiedlichen Menschen, die man auf dem Weg trifft. Vom 60-jährigen Bootsbauer, der seine Frau in Australien kennenlernte und gemeinsam mit ihr nach Neuseeland segelte, wo beide nun als Selbstversorger auf einem Grundstück umgeben von Kiwis und uralten Tōtara Bäumen leben. Über den Vagabunden, der fast den gesamten australischen Kontinent zu Fuß durchquerte, um den Mut zu finden, zu seiner Familie zurückzukehren. Bis hin zu den Begegnungen, bei denen es keine  Geschichte, sondern nur einen Augenblick bedarf, um zu wissen, dass da eine besondere Verbindung ist.

 

Je länger man an einem Ort bleibt, desto mehr Raum nehmen Begegnungen und Beziehungen ein. Jede Routine, jede Wiederholung stärken die Bindungen. Doch wenn die Essenz des Reisens das unterwegs sein ist, dann überschneiden sich Wege für einen Zeitraum, bevor sie sich wieder trennen.

 

Das führte dazu, dass ich irgendwann begann, eine Mauer aufzubauen, um mich vor dem Abschiedsschmerz zu schützen. Nur um zu lernen, dass ich dadurch nicht nur die Verbindung zu Anderen, sondern auch zu mir selbst verliere. Der Schlüssel ist offen und verletzlich zu bleiben – denn letztendlich ist fast jedes "hallo" auch immer ein "Auf Wiedersehen" – wenn man möchte.

 

Das große Glück des Reisens liegt zu gleichen Teilen in der Freiheit und in den Begegnungen. Darin sein eigenes Ding zu machen und gleichzeitig Menschen zu finden, mit denen man Erlebnisse und Freude teilen kann.

Vom Glück anzukommen

Als ich 2018 aufgebrochen bin, war der Auslöser eine Sehnsucht, die Suche nach etwas, von dem ich gar nicht genau wusste, was es war. Am anderen Ende der Welt dachte ich, muss ich finden, wonach ich suche, denn weiter kann die Suche nicht führen.

 

Erst jetzt – über zwei Jahre später – wird mir klar, wonach ich gesucht habe. So banal und naheliegend diese Erkenntnis ist, so viel Zeit hat es mich gekostet, sie zu finden: Ich war ganz einfach auf der Suche nach mir selbst.

 

Zu sagen, dass ich mich auf dieser Reise gefunden habe würde zu weit gehen. Ich habe Grenzen überschritten, Grenzen gezogen und meine persönlichen Grenzen (teilweise) gefunden. Ich habe vielleicht nicht herausgefunden, wie ich leben möchte, aber viele interessante Lebensentwürfe kennengelernt.

 

So habe ich erkannt, dass ich meine Liebe zum Entdecken auch in der Routine finden kann. Dass ich lieber langsam unterwegs bin und mir Zeit nehmen möchte, um Dinge zu verstehen.

Dass Geben nur dann wirklich gut ist, wenn es von Herzen kommt.

Dass ich am glücklichsten bin, wenn ich in Verbindung mit der Natur lebe.

Und dass ich dann bei mir ankomme, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin und den Mut finde, meinen Weg zu gehen. Denn seien wir mal ehrlich: Wie gut ist es, dass wir diese Möglichkeit überhaupt haben!?

Inspiration


Inspiriert haben mich auf meiner Reise nicht nur Erlebnisse und Begegnungen, sondern auch einige Bücher, die ich in unterschiedlichen "Buchtausch-Stationen" gefunden habe.

 

 


Hier sind meine sechs Favoriten:

  1. Stan Nadolny: "Die Entdeckung der Langsamkeit"
  2. Dan Kieran: "Slow Travel: Die Kunst des Reisens"
  3. Daniel Kehlmann: "Die Vermessung der Welt"
  4. Robert Drewe: "The Body Surfers"
  5. Maja Lunde: "Die Geschichte der Bienen"
  6. Rupi Kaur: "The Sun and her Flowers"

 

Welche Bücher inspirieren euch und wie habt ihr die Rückkehr nach einer langen Reise empfunden?


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