Das andere Ende der Welt ist unserer Zeit voraus.
Während wir in Deutschland noch vor dem Fernseher sitzen und mit Freunden oder Familie über die Qualität des aktuellen Tatorts diskutieren, startet in Australien bereits die neue Arbeitswoche.
Reist man ans andere Ende der Welt, reist man also in die Zukunft. Angefühlt hat sich meine Rückreise nach Deutschland diesmal allerdings weder wie eine Reise in die Zukunft, noch wie eine Reise
in die Vergangenheit. Eher wie eine Fahrt im Freefalltower, mit der einzigen Klarheit, dass man unten ankommt.
Naiv und sorglos
Während in vielen europäischen Ländern bereits Ausgangssperren erlassen, in Deutschland die Schulen geschlossen sind und die Bundeskanzlerin die Menschen anmahnt, Abstand zu halten, bin ich mit
zwei Freunden eine Woche lang im Süden Australiens unterwegs.
Mit dem Gefühl von Freiheit im Herzen und Sonne auf der Haut fahren wir von Strand zu Strand. Campen zwischen Koalas und Kängurus, wärmen uns abends am Lagerfeuer, während wir staunend die
Milchstraße betrachten.
Was in der Welt passiert? Keine Ahnung. Jeder von uns hat bereits vor einiger Zeit die Push-Benachrichtigung der Nachrichten Apps blockiert, der Mobilfunkempfang ist rar. Am letzten Tag unseres
Roadtrips – wir sind gerade auf dem Weg zu den 12 Apostels, die berühmteste Sehenswürdigkeit auf der Great Ocean Road – erreicht mich eine Freundin am Telefon: „Du weißt du eigentlich, was
hier los ist“? „Ne keine Ahnung. Was gibt's?“
Klar war ich mit der Corona Thematik bewusst. Dass die Einschnitte in das alltägliche Leben so tiefgehend sein und so schnell umgesetzt werden würden – wer hatte damit schon gerechnet?
Ich jedenfalls nicht. Und so ähnelt das Gefühl beim Öffnen von Spiegel Online einem Sprung in ziemlich kaltes Wasser.
Fuck!
Mein erster Gedanke ist: "Fuck!" *Zugegeben es gibt weniger provozierende Adjektive, um eine starke Emotion zu beschreiben. Doch dieses Wort hat sich in den letzten Wochen in meinen Sprachgebrauch geschlichen.
Die Australier nutzen dieses Wort in jeder Lebenslage: Sei es, um besondere Erlebnisse zu beschreiben: „I saw a fucking shark. It was fucking great“, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen: „Fuck
this. I’m so done with this fucking shit“ oder, um sich in der Kundenkommunikation Respekt zu verschaffen: „Don’t fucking take or borrow from … front office …“
Die Heimreise. Die größte Angst jedes Langzeitreisenden rückt nun plötzlich zu schnell zu nah. Schnell wird mir klar: In dieser Situation, die so unklar ist, will ich zu Hause bei meiner Familie
und meinen Freunden sein. Ziemlich schnell realisiere ich auch: Die Heimreise ist gar nicht das Problem.
Überhaupt zurück nach Deutschland zu kommen ist das Problem. Jeden Tag stellen mehr Fluglinien ihren Betrieb ein, machen Länder ihre Grenzen dicht und werden Flüge gestrichen.
Einige meiner Mitreisenden prüfen alternative Wege: Segelboote, Frachtschiffe, Züge, Busse etc. Worüber vorher nur wenige an Nachhaltigkeit interessierte Reisende nachgedacht haben, scheint nun
für alle eine realistische Option. Doch selbst die einzelnen Staaten innerhalb Australiens schließen nach und nach ihre Grenzen und schränken damit die Bewegungsfreiheit von Tag zu Tag zunehmend
ein.
Alles anders
Zum ersten Mal in meinem Leben und zum ersten Mal im Leben der Mitreisenden, die wie ich zur Generation Y oder Z zählen und die mit mir in einem Hostel in Sydney gestrandet sind, ist etwas nicht
möglich. Wir sind aufgewachsen mit dem Versprechen, dass alles immer verfügbar ist. Wenn man sich nur genug anstrengt, steht dem sozialen Aufstieg und damit auch der Anhäufung von Reichtum nichts
im Weg und für den, der genügend Geld hat, für den ist in unserer Welt fast alles käuflich.
Doch plötzlich, von einem Tag auf den anderen, ist das anders. Die Regale im Supermarkt sind leer? Länder machen ihre Grenzen dicht? Daran kann auch Geld nichts ändern.
Bei der Suche nach einem Rückflug nach Deutschland fühle ich mich wie im Casino. Auf welche Airline soll ich setzen? Wo bleiben die Grenzen offen? Welches Land wird die Durchreise als Nächstes
verbieten? Mit jedem Tag sinkt die Anzahl der Möglichkeiten. Mit jedem Tag wird die Gewissheit größer: Es kann sein, dass ich nicht mehr nach Hause komme.
Doch wie beim Glücksspiel gilt auch in dieser Situation: So lange weitermachen, bis man Erfolg hat und darauf hoffen, dass die Ersparnisse ausreichen.
Das Glück ist auf meiner Seite und so kann ich nach drei Tagen intensiver Suche eine gültige Flugbuchung vorweisen. Obwohl das noch nicht bedeutet, dass ich diesen Flug am Ende tatsächlich
wahrnehmen kann (Überbuchungen, Änderung der Rechtslage etc.), bleibe ich dennoch optimistisch und packe meinen Rucksack.
Nach Hause kommen
Am nächsten Morgen checke ich aus: „Dein Zimmer ist für heute Nacht noch frei, falls dein Flug ausfällt oder du nicht mitfliegen kannst. Wir haben das in den letzten Tagen oft erlebt, dass die
Leute wieder zurückgekommen sind,“ sagt der Rezeptionist freundlich. „Danke. Das ist wirklich ermutigend“, erwidere ich mit einem müden Lächeln.
Auf dem Weg zum Flughafen bin ich so nervös wie zuletzt vor der Verteidigung meiner Masterarbeit. Klar, was jetzt passiert, wird sich auf die ein oder andere Weise auf mein Leben auswirken.
Obwohl der Check-In erst in vier Stunden öffnet, warten Menschen bereits vor dem Schalter. Egal ob aus Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden – keiner von uns will diesen Flug, der an
diesem Tag die einzige Verbindung von Sydney nach Europa ist, verpassen.
Als ich einige Stunden später meine Boardingpässe in der Hand halte, fühlt es sich an wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern auf einmal.
Und so ist das Heimkommen gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Ich hatte Angst davor, dass sich die Welt zuhause weiterdreht, aber ich mich nicht mehr mitdrehen will. Doch der Corona
Virus hat die Welt gefühlt zum Stillstand gebracht.
So fühlt sich diese Heimkehr nur zum Teil wie nach Hause kommen an.
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