Tausche Büro gegen Acker - WWOOFing in Neuseeland

Während die Sonne langsam hinter der Hügelkette am Horizont emporsteigt, lege ich meine Schaufel nieder und halte Inne. Die Farmhunde – zwei Jack Russell Terriers – haben schnell entdeckt, dass ich nicht mehr arbeite. Mit leuchtenden Augen betteln sie um meine Aufmerksamkeit. Aus den umliegenden Bäumen begrüßen Tuis (neuseeländischer Vogel) den neuen Tag mit ihren futuristischen Gesängen. Es ist 6 Uhr Morgens, ich stehe auf einem Acker irgendwo in der Nähe von Dargaville, im Nordwesten Neuseelands und frage mich, wie ich jemals wieder in einem Büro arbeiten soll.

 

Bzw. müsste die Frage eigentlich lauten: Warum habe ich das nicht schon viel früher ausprobiert?

 

Nachdem ich den Großteil meines Lebens überwiegend sitzend an einem Schreibtisch verbracht habe, muss ich jetzt einfach noch mal raus.

 

Ich will die Welt nicht mehr nur auf einem Bildschirm oder durch ein Fenster sehen. Ich will sie anfassen, riechen, schmecken können und erfahren, wie es ist, im Einklang mit der Natur zu leben.

 

Auf der Suche nach Sinn

Ähnlich muss es auch der (wahrscheinlich jetzt ehemaligen) Sekretärin Sue Coppard gegangen sein, die 1971 das WWOOFing-Netzwerk (damals noch unter dem Namen „Working Weekends on Organical Farm“) ins Leben gerufen hat.

 

Der Name hat sich (in erster Linie aus rechtlichen Gründen) geändert, aber die Idee ist dieselbe geblieben: Im Tausch für Unterkunft und Essen hilft man als „WWOOFer“ bei anfallenden Arbeiten auf der Farm und wird ein Teil der Familie bzw. Gemeinde.

 

Mittlerweile ist das Netzwerk weltweit aktiv und hat rund 90.000 Mitglieder – und ich bin seit einigen Wochen eins davon.

 

Das Füttern der Hühner hat zu meiinen Lieblingsaufgaben gehört.
Das Füttern der Hühner hat zu meiinen Lieblingsaufgaben gehört.

 

Tipp: Wie das WWOOFing funktioniert und welche Plattformen es gibt, habe ich euch übrigens hier aufgeschrieben.

 

Während ich vor wenigen Wochen also noch von 9 bis 18 Uhr im Büro gesessen, E-Mails beantwortet, mir Konzepte ausgedacht und Pressemitteilungen geschrieben habe, stehe ich jetzt auf einem Feld – 18.350 Kilometer von zu Hause entfernt  – und grabe Gemüse aus.

 

Im Vorhinein hatte ich befürchtet, dass ich der körperlichen Herausforderung nicht gewachsen sein könnte. Dass ich um 4.30 Uhr Morgens auf dem Feld einschlafe und mich schneller in mein gemütliches Büro zurückwünsche, als man hier am anderen Ende der Welt einen Sonnenbrand bekommt – und das geht ziemlich schnell, das könnt ihr mir glauben.

 

Aber ich mag diese Arbeit.

 

Morgens um 9.30 Uhr in Neuseelnd.
Morgens um 9.30 Uhr in Neuseelnd.

 Ich mag es früh aufzustehen, den Wind, den Regen und die Sonne auf der Haut zu spüren, den Vögeln zu lauschen, Tiere zu füttern, Beeren zu pflücken, Knoblauch zu schälen oder Unkraut zu jäten.

 

Ab einem gewissen Punkt wird – vor allem das Beeren pflücken oder Knoblauch schälen – zwar eintönig, aber das gibt mir die Möglichkeit, meine Gedanken schweifen zu lassen.

 

Ich träume von meiner eigenen kleinen Farm irgendwo in Deutschland, wo die Landschaft schön und die Grundstückpreise niedrig sind.

 

Ich träume von einem Gemüsegarten, drei bis vier Schafen, fünf Hühnern, zwei Ponys, einem Hund und einer Katze. Einem Haupthaus und mehreren kleinen Häuschen versteckt zwischen hohen Bäumen, in denen ich Menschen aus der ganzen Welt beherbergen kann.

Das Leben ist kein Ponyhof

Mein Tagtraum wird unterbrochen, als mein WWOOFing Host (Gastgeber) zu mir kommt.

 

Weil es in den Wintermonaten ungewöhnlich viel geregnet hat, ist fast die gesamte Knoblauchernte mit einer Krankheit infiziert. Den genauen Namen verstehe ich nicht, aber es scheint ernst zu sein.

 

„Vielleicht sind Teile der Ernte noch zu retten, wenn wir den Knoblauch schon jetzt aus der Erde holen“, sagt er mit einem Seufzer. „Wenn wir es schaffen, die Ernte  zu verkaufen, bekomme ich zwar weniger Geld, als ich erhofft hatte, aber wenig ist besser als nichts.“

 

Als ich ihn ansehe, erkenne ich die Enttäuschung in seinen Augen.

 

In diesem Moment wird mir klar, wie naiv mein Tagtraum ist. Ich bin geblendet von romantisierenden Berichten über das vermeintlich „einfache Leben“ auf dem Land und Lebenskonzepten, die einen Rückzug in die Natur propagieren.

 

Doch das echte Leben ist kein Ponyhof.

 

Meine zweite WOOFing Familie lebt zum Großteil als Selbstversorger. Ich finde dieses Konzept sehr spannend und hoffe, bald noch mehr darüber lernen zu können.
Meine zweite WOOFing Familie lebt zum Großteil als Selbstversorger. Ich finde dieses Konzept sehr spannend und hoffe, bald noch mehr darüber lernen zu können.

 

Im echten Leben ist die Arbeit auf einer Farm gleich auf mehreren Ebenen eine echte Herausforderung. Neben dem Wissen über Pflanzen, Tiere, Böden, Klimaverhältnisse, gesetzliche Standards, den lokalen Markt und die eigenen Kunden, trifft ein Bauer auch regelmäßig Entscheidungen über Leben und Tod.

 

Hört sich jetzt vielleicht auf den ersten Blick übertrieben an.

 

Mit der Verantwortung, ein Tier zu töten (abgesehen von Mücken) bin ich schließlich – wie die meisten von euch wahrscheinlich auch – bislang nur dann konfrontiert worden, wenn ich vorm Kühlregal stand und überlegt habe, ob ich weiterhin Fleisch esse oder doch lieber Vegetariern werde.

 

Vor meinem ersten WWOOFing auf einer Bio-Gemüsefarm hätte ich mir nicht vorstellen können, wie schnell mich die Realität einholen würde. Aber für diese Anekdote muss ich kurz ausholen.

 

Ein Gewehr zum Mittag

 

Während wir uns in Deutschland zusätzlich zur Mittagspause maximal noch eine Frühstückspause gönnen, zelebrieren die Neuseeländer ihr zweites Frühstück genauso wie den Nachmittagstee.

 

Überrascht bin ich nicht nur von der Anzahl der Pausen, sondern auch von der Tatsache, dass neben Brot, Salat, Butter und Käse bei meinem ersten "Lunchbreak" auch ein Gewehr auf dem Tisch liegt.

 

Ich bin zumindest irritiert, will mir aber nichts anmerken lassen und abwarten, was passiert. „Ach ja das Gewehr“, sagt der Vater meines WWOOFingHosts nach einigen Minuten, als ob ihm erst jetzt aufgefallen wäre, dass ein Fremdkörper auf dem Küchentisch liegt.

 

Er greift danach und bringt es ins Haus.

 

„Vorhin habe ich endlich das Wildschwein erwischt, das sich seit einigen Wochen durch unseren Gemüsegarten frisst“, erzählt er mir und lässt sich zufrieden lächelnd in seinen Stuhl sinken.

 

Fallen werden in erster Linie eingesetzt, um eingeschleppte Tierarten wie Opossums, Hasen, Ratten, aber auch wildlebende Hunde und Katzen zu fangen und die einheimische Flora und Fauna zu schützen.
Fallen werden in erster Linie eingesetzt, um eingeschleppte Tierarten wie Opossums, Hasen, Ratten, aber auch wildlebende Hunde und Katzen zu fangen und die einheimische Flora und Fauna zu schützen.

 

Auch bei meiner zweiten WWOOFing Familie gehörte das Gewehr ganz normal zum Alltag dazu. War ich anfänglich noch als befremdlich empfunden habe, kann ich nun – zu meiner eigenen Überraschung – mehr und mehr nachvollziehen.

 

Auf einer Farm zu arbeiten bedeutet vereinfacht, die richtigen Prioritäten zu setzen und zwischen „Nützlichem“ und „Unnützem“ zu unterscheiden.

 

Das Nützliche ist vereinfacht gesagt das, was konsumiert, verarbeitet und verkauft werden kann (Obst, Gemüse, Getreide, Eier, Milch, Wolle etc.) oder einen ideelen Wert besitzt.

 

Meine zweite Gastfamilie setzt sich zum Beispiel für den Schutz von heimischen Tier- und Pflanzen-Arten ein. Gemeinsam mit den umliegenden Farmen haben sie eine private Schutzzone errichtet, in der sich nun wieder "Kiwis", "Fantails", "Tuis" und viele weitere einheimische Vögel angesiedelt haben.

 

Diese Tiere sind nicht nützlich in dem Sinne, dass man sie essen oder ihre Federn für Kleidung oder Ähnliches verwenden kann und dennoch investieren diese Farmer viel Zeit und Energie, um sie vor dem Aussterben zu bewahren.

 

Die Arbeit auf einer Farm ist ein täglicher Kampf gegen unerwünschte Tiere und Pflanzen.
Die Arbeit auf einer Farm ist ein täglicher Kampf gegen unerwünschte Tiere und Pflanzen.

 Wer erfolgreich in seinem Job sein möchte, muss das Unnütze kontrollieren oder töten, damit das Nützliche gedeihen kann. Wenn nun Wildschweine den Ernte-Ertrag gefährden, oder Katzen Kiwi Küken töten heißt es: entweder das Wildschwein oder meine Ernte bzw. die Katze oder der Kiwi. Dann ist klar, wie die Entscheidung ausfällt.

 

Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ich einmal nachvollziehen kann, warum Menschen Waffen besitzen möchten.

 

Nach wie vor bin ich froh, dass es in Deutschland strenge Gesetze gibt und am liebsten wäre es mir, wenn es gar keine Waffen mehr geben würde.

 

Aber nach dieser Erfahrung verstehe ich nun, dass es zwischen Schwarz und Weiß auch viele Grautöne gibt.

 

 Fun Fact:  In einem Café in Pukeruka – der vielleicht kleinsten Stadt Neuseelands–  kann man „Possum Pies“ bestellen. Das Werbeversprechen: “You kill ‘em, we’ll grill ‘em”

 

Die Neuseeländer investieren viel Energie in die Vernichtung eingeschleppter Tierarten. Es gibt sogar eine eigene staatliche Behörde, deren Hauptaufgabe es ist, die einheimische Tier- und Pflanzenwelt zu bewahren: das „Department of Conservation“ (DOC). Weil Wildschweine, Hasen, Marder, Opossums etc. hier keine natürlichen Feinde haben, vermehren sie sich fast ungebremst. Wenn so Tier über die Straße läuft, sagt man hier deshalb nicht: „Weich aus, damit das arme Tier überleben kann“, sondern „halt drauf!“

 

Der Traum vom guten Leben

 

Mir war von Anfang an klar, dass der Wunsch etwas durchweg Sinnvolles und Gutes tun zu können, zumindest naiv ist. Und dennoch bin ich mit dieser Sehnsucht in das WWOOFing gestartet. Ich hatte auf eine Arbeit gehofft, deren Sinnhaftigkeit ich nicht hinterfragen und die ich nicht vor meinem Gewissen rechtfertigen muss. Jetzt stelle ich fest, dass es so einen Job selbst auf einem Gemüsebauernhof nicht gibt.

 

Auch hier kann es Situationen geben, in denen man ein Tier töten muss, um die Ernte zu schützen. Selbst Unkraut jäten bedeutet, gewissen Pflanzen die Chance auf ein Leben zu nehmen.

 

Es gibt wahrscheinlich nicht viele Jobs, die so unhinterfragbar sinnvoll sind, wie (gesunde) Lebensmittel anzubauen, aber für alles, was produziert und konsumiert wird, muss etwas anderes sterben. Der natürliche Kreislauf des Lebens. Dieser Verantwortung kann man sich nicht entziehen.

 

Ich bin froh, dass mir das bewusst geworden ist und gleichzeitig werde ich das Gemüse auf meinem Teller nie wieder so unbefangen ansehen wie zuvor.

 

Im Frühsommer sind die meisten Lämmer bereits so groß, dass sie von ihren Müttern getrennt werden.
Im Frühsommer sind die meisten Lämmer bereits so groß, dass sie von ihren Müttern getrennt werden.

Angekommen

 

Obwohl die Arbeit hart und anstrengend ist, fühle ich mich doch vom ersten Moment an irgendwie angekommen. Es ist ein zutiefst befriedigendes Gefühl, die Früchte der eigenen Arbeit mit allen Sinnen erleben zu können. 

 

Außerdem gefällt mit der Arbeitsrhythmus: Meistens steht man mit oder zumindest kurz nach Sonnenaufgang auf. Es wird gearbeitet, wenn Arbeit da ist* , aber wenn die Bedingungen für schönere Aktivitäten wie Segeln oder Surfen perfekt sind, werden alle Werkzeuge niedergelegt und es geht raus aufs Meer.

 

*Ich habe meistens im Wechsel einen Tag gearbeitet und hatte dann einen Tag frei.

 

"Morgen wird es schön! Lass uns ans Meer fahren." Ich bin meiner zweiten Gastfamilie unglaublich dankbar dafür, dass sie mir so viele schöne Stellen in der Bay of Islands gezeigt haben.
"Morgen wird es schön! Lass uns ans Meer fahren." Ich bin meiner zweiten Gastfamilie unglaublich dankbar dafür, dass sie mir so viele schöne Stellen in der Bay of Islands gezeigt haben.

 

Mir ist klar, dass meine Begeisterung natürlich auch dem Zauber des Neuen geschuldet ist. Ich frage mich, ob ich immer noch so überschwänglich berichten würde, wenn ich länger als drei Wochen Vollzeit auf einer Farm arbeiten würde.

 

Update: Ich denke tatsächlich gerade darüber nach, längere Zeit auf einer Farm zu arbeiten, um das herauszufinden. Wenn es so weit ist, werde ich euch davon berichten.

 

Tief in meinem Inneren weiß ich aber irgendwie, dass sich diese Lebensform für mich richtig anfühlt. Es ist genau die gleiche Sicherheit, mit der ich wusste, dass es sich für mich falsch anfühlt, acht Stunden am Tag in einem geschlossenen Raum zu sitzen.

 

Eine Kombination aus beidem: drinnen und draußen, geistiger und körperlicher Arbeit wäre perfekt. Wer weiß vielleicht wird der Traum von einer kleinen Farm in Deutschland ja wahr und ich kann meine Arbeit als Autorin und Fotografin mit einem Gemüsegarten, ein paar Tieren und Gästeunterkünften kombinieren und selbst irgendwann WWOOFer beherbergen.

 

Wie seht ihr das – Wünscht ihr euch auch manchmal mehr Abwechslung in euren Arbeitsalltag?

 

Liebe Grüße (aktuell aus St. Arnaud),

 

eure Salomé

 

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